Abschiedssommer
Sommer 1992.
Ich bin neun und voller Vorfreude, auch wenn ich auf dem Bild eher gelangweilt wirke. An dem Abend findet unser Abschiedsessen statt. Das halbe Dorf sitzt kurz nach dieser Aufnahme in unserem Wohnzimmer. Jede Woche sind jetzt solche Abschiedsfeiern. Die Schröders, die Steinkes, die Kirchgessners und jetzt wir, die Peters, fahren nach „Deitschland“.
Seit Wochen sortieren meine Eltern Kleidung und Bilder aus, verkaufen unsere Kuh, Möbel, das Auto – für Geld, das wegen der Inflation kaum etwas wert ist. In der Stadt kaufen sie dafür auf einem „Basar“, der seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion von Markenimitaten aus China geflutet wird, fake Jeans und weiße Turnschuhe, deren Sohlen sich beim ersten Tragen in Deutschland lösen werden.
Wir fahren ein letztes Mal zum Haus meines Großvaters im Nachbardorf. Wenn ich 2013 durch das Dorf laufe, werde ich es nicht mehr finden. Der Steppenwind wird es weggeweht haben. Als hätte es die Deutschen in Kasachstan nie gegeben. Nur am Friedhof erinnert bis heute die Grabtafel meines Urgroßvaters an uns. Auch noch 30 Jahre, nachdem die Peters gefahren sind – in dieses Deitschland, das ihnen eine neue Heimat werden sollte.


